5. Brückenschläge (1)


Als sich die Türen der U-Bahn hinter ihm geschlossen hatten, fiel ein wenig Anspannung von Fiedler ab. Sina loszuwerden war in etwa so schwierig gewesen wie er erwartet hatte - obwohl er ihren Trick, vor beiden Ausgängen der Buchhandlung zu stehen, als ziemlich stilvoll empfand. Wahrscheinlich eine Illusion in irgendeiner Form - für so mächtig hielt er sie nicht - aber eben stilvoll. Fast schon schade, dass er sie abhängen musste. Routiniert blickte er auf die Streckenanzeige des Wagens. Laupertshafen. Noch zwei Stationen.

Die Informationen, die er von Uhlenbrock erhalten hatte, legten für ihn seine nächsten Schritte fest. Von den vier Männern, die bei Astrid Kirchners Tod dabei gewesen waren - also Haubold, Fechtner, Leymann und Steinmeier - war die Auswahl an potentiellen Mitstreitern nicht besonders groß. Gut, Haubold wäre nicht nur eine Person mit "Verbindung" zu Kirchners Tod gewesen, sondern auch noch ein alter Kampfgefährte, dessen Hilfe sicherlich gelegen gekommen wäre - aber er war nun mal nicht schnell auffindbar, und zudem musste er auch nicht zu viel über Fiedlers Verpflichtungen erfahren. Was Fechtner anging - nun ja, sein Vertrag mit der von Radewitz war offenbar eindeutig, was Verknüpfungen und rituelle Verbindungen anging. Natürlich könnte er Leymann aus dem Knast holen, aber das wäre einerseits aufwändig und andererseits ein Verstoß gegen die Regeln der Normalität gewesen: An einem Ort wie einem Gefängnis fiel die Abwesenheit eines Gefangenen in der Regel recht schnell auf. Also musste der Gute wohl dort bleiben. Damit blieb noch Steinmeier. Im Grunde genommen war er sowieso die beste Wahl: Noch relativ neu an der Grenze, ohne besondere Verbindungen oder Verpflichtungen, offenbar nicht besonders beschäftigt und (wenn Fiedler seiner Erinnerung und Menschenkenntnis trauen durfte) damals leicht in die Kirchner verknallt. Der ideale Kandidat für die Rolle als Helfer, Scherge und Bauernopfer. Hey, wenn er das überlebte, könnte es ihm sogar etwas bringen!

"Schlosserbrücken, Einkaufsgebiet Westufer" Der säuselnde Klang der synthetischen Frauenstimme aus dem U-Bahnlautsprecher riss Fiedler aus seinen Überlegungen und er machte sich hastig daran, zur Türe zu kommen, um aussteigen zu können.

Draußen auf dem Bahnsteig umfing ihn kühle Luft mit einer Mischung aus Nicht-Stickigkeit und Gestank von Hydraulikflüssigkeit, Ozon und Menschen, wie man sie nur in U-Bahnhöfen findet. Zielstrebig steuerte Fiedler die Reihe von Snack- und Getränkeautomaten in der Mitte der Station an, kramte eine fünfzig Cent Münze aus seiner Jackentasche und versenkte sie im verkratzten Münzschlitz eines kampferprobt wirkenden Automaten. Mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck studierte er dann das Angebot, betätigte eine Auswahltaste und entnahm den von der Maschine pflichtgemäß wenn auch zögerlich ausgeworfenen Schokoriegel. Nach einem sichernden Blick über die Schulter riss er die dünne Plastikfolie der Verpackung auf, inspizierte den Inhalt gründlich, bevor er schließlich mit leisem, ungeduldigen Fluchen Riegel und Verpackung in den Hut eines neben den Automaten schlafenden Penners beförderte. Nie ging es schnell, wenn es mal schnell gehen musste.

Immer noch leicht gereizt bahnte sich Fiedler seinen Weg zu den Rolltreppen, ignorierte das dort angebrachte "außer Betrieb"-Schild und eilte die stillgelegten Metallstufen hinauf zum trüben Licht der Oberwelt. Unbehindert von den Menschenmengen, die sich die Treppe hinauf- und hinunterdrängten, war der obere Treppenabsatz schnell erreicht und nach einem weiteren schnellen Schulterblick nach eventuellen Verfolgern folgte Fiedler dem von hier aus bis zur Neuen Schlosserbrücke führenden Fußweg mit dem relative Trockenheit versprechenden Plexiglasdach.

Für einen Grenzgänger war das Leben in Durnburg recht entspannt - jedenfalls verglichen mit dem in anderen Städten. Ein Vertrag (der "Durnburger Kontrakt") hielt die größeren Gruppierungen und Organisationen der Grenze davon ab, sich unmittelbar gegenseitig zu zerfleischen, und wenn man außerhalb ein paar gefährlicher Gebiete blieb, war auch die lokale Monstrositätenfauna einigermaßen harmlos. (Einmal abgesehen von den gelegentlich zuwandernden Freaks wie Werwesen oder Schattenfressern, die aber meist recht flott von der wohlorganisierten lokalen Bevölkerung unschädlich und/oder nützlich gemacht wurden.)

Zu den Orten, die man als Bewohner der Durnburger Grenze vorzugsweise mied, gehörte die Neue Schlosserbrücke. Bereits während ihres Baus hatte sich dort ein besonders hartnäckiger und gleichermaßen mächtiger wie sturer (und damit magieresistenter) Troll eingenistet, der sich bislang allen Neutralisierungsversuchen widersetzen konnte. Das Problem dabei einen Brückentroll loszuwerden war, dass sich diese grobschlächtigen Repräsentanten des Feenvolks die Brücke zu ihrer Domäne machten und dort damit nahezu uneingeschränkte Einflussmöglichkeiten hatten, die eigentlich nur durch die (glücklicherweise eng begrenzte) Fantasie des Trolls limitiert waren.

Fazit: Um einen Brückentroll endgültig loszuwerden, musste typischerweise die komplette Brücke abgerissen werden.


Fiedler stand nun also am Fuß einer solchen trollverseuchten Brücke, zögerte kurz, machte dann aber einen entschlossenen Schritt hinüber auf den Beton des Brückenkörpers. Wie erwartet spürte er für einen Moment die vage Präsenz von etwas Großem, Schnüffelnden, Übelriechenden - dann war das Gefühl vorbei, ohne dass sich ein Troll irgendwo gezeigt hätte. Er feixte. Tja, Trolle verwendeten eben auch nur Magie - und die konnte ihn nun mal nicht finden. Vergnügt machte er sich auf den Weg zum Höhepunkt des schmalen Brückenbogens über die Elm. Dort ragte vorne auf einer Aussichtsplattform der schwarze Eisenleib der Statue aus der Betonkonstruktion hinaus auf deren Schoß wiederum als kleiner heller Fleck Finn Steinmeier saß, in irgendwelchen Regentagträumen versunken.

Wie tief diese Versenkung tatsächlich war, stellte Fiedler fest, als er schließlich den Scheitelpunkt der Brücke erreicht hatte: Mit leerem mürrischem Blick starrte Steinmeier ihm entgegen und durch ihn hindurch. Na ja, so viel Zeit würde sein müssen. Sarkastisch grinsend, aber mit gelegentlichen Blicken nach links und rechts nach eventuellen Verfolgern (oder Trollen), lehnte er sich vor Finn an die Brüstung der Brücke.

Nach geschlagenen zwei Minuten war es dann so weit: Mit einer Mischung aus Erkennen, Erstaunen und bösen Vorahnungen weiteten sich Steinmeiers Augen und man konnte sehen, wie sein Gehirn im Trüben der Erinnerung nach einem Namen fischte, denn seine Lippen schließlich aussprachen: "Alexander Fiedler."

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