6. Andererseits (1)


"Ich bitte Sie, tun Sie nichts Unüberlegtes!" Ein Schweißtropfen rann über Lukas Bracks Kinn und vermischte sich zögerlich mit dem dünnen Rinnsal von Blut, das aus einem frischen Kratzer an seiner Kehle quoll. Keinen Millimeter darüber harrte drohend die rasiermesserscharfe Spitze eines schlichten matt-stählernen Dolches, der von unsichtbarer Hand gehalten als eine von sieben identischen Klingen einen bedrohlich kreisenden Kragen um Bracks Hals bildete.

Sein Gegenüber richtete sich in seinem modernen Drehstuhl auf, eine Geste, die nicht nur entfernt an das Drohen einer Kobra erinnerte. Statt eines Zischens ertönte aber eine ruhige, nüchterne und wohlklingende Tenorstimme, die überhaupt nicht zu der wütend pulsierenden Halsschlagader des großen, schlanken Mannes mit dem rationalen blonden Bürstenschnitt passte. "Mitnichten, Brack. Selbstverständlich bin ich geneigt, auch Ihnen eine zweite Chance zu gewähren. Erläutern Sie doch bitte noch einmal, was der von mir entsandten Kreatur geschehen ist? Mir war, als hätte ich Sie missverstanden, als hätten Sie gesagt, sie wäre 'vernichtet' worden... Nur zu! Seien Sie sich meiner vollständigen Aufmerksamkeit versichert!"

Bei den letzten Worten zog sich der Kranz aus Dolchen um ein paar Millimeter zusammen und glitt ein Stück nach oben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht war Brack nun gezwungen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit die Klingen nicht mehr taten, als seine Haut zu ritzen.

Keuchend stieß er hervor, was seiner Ansicht nach wohl sein Todesurteil sein könnte: "Vor einer Stunde ist der Beschwörer zu mir gebracht worden, der die Kreatur kontrolliert und überwacht hatte. Er war fast tot und kaum noch bei Sinnen, weil ihm irgendetwas das Hirn zerquetscht hatte. Aus ihm konnten wir nicht mehr herausbekommen, als dass er 'sie' verloren hätte - und er stöhnte etwas von einer Frau aus Nacht und Flammen. Sofort habe ich dann ein paar Leute losgeschickt und mehr als das da konnten sie nicht wiederfinden."

Bracks Hand wies etwas ungelenk auf den ziemlich mitgenommen wirkenden abgetrennten Kopf einer Schaufensterpuppe mit poppig violettem Haar, tiefen Kratzspuren durch die perfekten künstlichen Züge und nur noch einem Auge. Aus der aufgefetzten Augenhöhle und dem offensichtlich mit roher Gewalt vom Rumpf getrennten Hals des Plastikhaupts sickerte eine tiefrote zähe Flüssigkeit, die mittlerweile eine klebrige Lache auf dem gepflegten Parkettboden des Raumes gebildet hatte.

"Es ist nicht mein Fehler! Ich musste nur die schlechte Nachricht überbringen!" In einem Anflug von Verzweiflung überschlug sich Bracks Stimme und er verstummte mit nervös zuckendem Adamsapfel. Für einen Moment herrschte Stille, nur gebrochen durch das Rauschen des Verkehrs tief unten vor dem Gebäude und das Prasseln des Regens an den großen Klarglasscheiben, während hinter den wasserblauen Augen des Mannes im Chefsessel die Entscheidung über das Leben seines Handlangers getroffen wurde.

"Da mögen Sie Recht haben." Der Mann im Bürostuhl schwang langsam herum und wandte sich dem Fenster zu. Unablässig kreisten die Messer um Bracks Hals und zogen ihre Muster aus blutigen Linien über seine Haut. Immer wieder entrang sich ein unterdrücktes Stöhnen der misshandelten Kehle des Mannes. Ein paar weitere endlose Herzschläge vergingen, dann hob sich eine schmale Hand mit drei schlichten Ringen als Silhouette vor das Fenster, krümmte Daumen, Ring- und kleinen Finger und machte dann eine kleine, schnelle aber komplexe Geste.

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