7. Fragestunde (3)


Das Treffen war dann eine recht seltsame Angelegenheit. So ziemlich jeder der Anwesenden schien sein privates kleines Geheimnis zu haben und irgendwie lief alles darauf hinaus, dass alle einen mehr oder weniger begründeten Hass auf den Gastgeber mit sich herumtrugen. Schließlich kam, was kommen musste: Der Gastgeber wurde tot im Kaminzimmer aufgefunden. Natürlich ermordet. Klassisch, nicht wahr?" Ein Schluck aus seinem Glas und Fiedler blickte noch einmal durch den Raum. An der anderen Seite des Lokals hatte mittlerweile der flackernde Schein eines Streichholzes angezeigt, dass sich die Person im Schatten frische Rauchware angesteckt hatte, die diesmal mit deutlich größerem Durchmesser brannte.

Als jegliche Einwürfe seitens seiner Zuhörer ausblieben, fuhr Fiedler fort: "Natürlich ermittelte sofort die Polizei, jedoch auch mich interessierte die Angelegenheit - eher weniger wegen dem Mord als vielmehr wegen der Karten. Ich halte zwar eigentlich die Regeln der Gastfreundschaft hoch und das Meucheln des Gastgebers gehört sicher nicht dazu, aber die Bluttat war eine geradezu perfekte Entschuldigung, neugierig sein zu dürfen.

Stück für Stück stellten sich zwei Dinge heraus: Einerseits besaßen alle diejenigen, die damals bei dem Bunkereinsturz dabeigewesen waren, ein großes Arcanum von eben dem gesuchten Kartendeck - und zeigten davon abgesehen gewisse Entsprechungen zu den darauf dargestellten Motiven. Andererseits liefen verdammt viele Fäden bei einer gewissen Person zusammen, die offenbar damals bei dem Unglück ums Leben gekommen war," an dieser Stelle schnaubte Finn Steinmeier verächtlich, was Fiedler aber geflissentlich ignorierte, "nämlich der Lehrerin".

Einen Umstand habe ich bislang allerdings verschwiegen, ohne den es gar keinen Sinn machen würde, die gesamte Story hier noch einmal aufzuwärmen: Genau wie ich war auch Frau Kirchner mit von der Partie und zwar als Begleitung und wenn ich es richtig verstanden hatte, als potentielle Gespielin unseres Herrn Steinmeier hier." Fiedler pausierte kunstvoll und für einen Lidschlag hatte Finn das Gefühl, von Sinas plötzlich auf ihn fokussierten Augen durchleuchtet zu werden.

Genüsslich genehmigte sich Fiedler einen weiteren Schluck seines Getränkes und weidete sich an Finns verzweifelten Bemühungen, den ziemlich großen Bissen seines Burgers in seinem Mund für eine schlagfertige Entgegnung aus dem Weg zu räumen. Mit wohlüberlegtem Timing und sicherer Stimme fuhr er dann fort, bevor sein Gegenüber mehr als unartikuliertes Maulen von sich geben konnte:

"Wie wahrscheinlich allen Anwesenden hier bekannt ist, war Astrid Kirchner ein recht begabtes und zudem ziemlich tüchtiges Medium. In Grenzgängerkreisen zumindest galt sie als eine der besten Adressen, wenn man denn Kontakt mit verstorbenen Geschäftspartnern, Erbtanten, Geheimnisträgern oder einfach nur lieben Menschen aufnehmen wollte. Welche Pläne Frau Kirchner selbst verfolgte, als sie auf dieses Treffen ging, kann ich Ihnen nicht sagen - und es ist auch nicht anzunehmen, dass sie unseren Herrn Steinmeier in die Tiefen ihres Vorhaben eingeweiht hat. Im Grunde genommen könnte sie dort einfach zu ihrem Vergnügen gewesen sein - oder weil sie sich in der Tat zu Finn hingezogen fühlte.

Auf alle Fälle machte sich auch Astrid Kirchner - aus welchen Beweggründen auch immer -  daran, hinter die Kulissen des Mordes und der Kartenangelegenheit zu schauen. Dabei lag es natürlich nahe, ihre Gabe zu nutzen und Kontakt zu einer der verstorbenen Personen aufzunehmen. Bei meinen Recherchen im 'Nachspiel' der Geschehnisse stellte es sich heraus, dass Frau Kirchner offenbar immer einen gewissen Zeitraum zwischen Tod und Befragung eines Menschen verstreichen ließ, das Mordopfer stand also für ein metaphysisches Verhör anscheinend nicht zur Auswahl.

Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die bei dem Bunkerunglück vor zehn Jahren im wahrsten Sinne des Wortes verschütt' gegangene Lehrkraft. Sie berief eine Seance aus vier Zeugen des Unglücks ein - es waren vor Ort ja mehr als genug vorhanden - und baute nach allem, was ich gehört habe, ganz klassisch eine Verbindung zum Geist der Lehrerin auf. Irgendetwas muss dabei aber schief gelaufen sein, denn keine zehn Minuten nach Beginn der Sache wurde ich von einem beteiligten Grenzgänger dazugerufen: die gute Frau Kirchner hatte sich ihrer eigenen Klientel angeschlossen und hing tot in ihrem Stuhl mit blutigen Rinnsalen aus Augen, Ohren und Nase."

Erneut pausierte Fiedler kurz, diesmal anscheinend tatsächlich, um Steinmeier eine Gelegenheit zu ein paar Worten zu geben. Dieser starrte jedoch mit etwas glasigem Blick vor sich hin und schien in keiner Weise geneigt, mehr Details der damaligen Ereignisse aus seinen Erinnerungen hervor zu locken. Indes huschte Fiedlers Blick einmal mehr quer durch den Raum und sichtete die Lage.

Auf der von Tischen, Stühlen und Gästen befreiten Bühne standen mittlerweile einige Sätze etwas archaisch/afrikanisch anmutender Schlaginstrumente und die Leute, die sich um den Aufbau gekümmert hatten, waren wieder zu anderen Tätigkeiten übergegangen. Bis zum Live-Act in einer Stunde würde kein Normalo die Bühne beachten, das wusste Fiedler - und er wusste auch warum. Die Frau im Schatten drückte ihren Glimmstängel aus, stand auf und begab sich mit lockeren aber grazilen Bewegungen auf den Weg zur Damentoilette. Es blieb nicht mehr viel Zeit für den Rest der Geschichte.

Fiedlers Kopf ruckte herum, als seine Redepause jäh von der abwesend und etwas rauher als gewohnt klingenden Stimme Steinmeiers unterbrochen wurde. "Esoterischer Quatsch - aber was tut man nicht alles für eine Frau, die einem ... gefällt. So etwas Ähnliches hab' ich mir damals wohl gedacht, als mich Astrid und die anderen zu der Séance überredet haben. Ich meine - das ist doch wie aus einem schlechten Teenie-Schocker: Auf einem Klassentreffen ist ein etwas okkult angehauchtes Mädel, die auf den Gedanken kommt, eine verstorbene Lehrerin zu beschwören ... oder wie man das nennt.

'Egal!' habe ich mir gedacht. 'Das ist ja kein Film! Wahrscheinlich wärmen wir ein paar alte Gedanken und Erinnerungen auf und kommen dann zum Schluss, dass Frau Schierlo eigentlich noch mitten unter uns ist ... oder irgend so ein watteweicher Schwachfug.' Kann ja keiner ahnen, dass Astrid verdammt noch mal ein echtes Medium ist und dass diese beschissene Grenzwelt existiert!

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