7. Fragestunde (1)


Pulsierende Reggea-Rhythmen erfüllten die unangemessen saubere und rauchfreie Luft in den von grünem und gelbem Licht durchfluteten Räumen der "Jungle Lounge". Umgeben von einer dichten Wand aus (nahezu echtem) Gebüsch saßen Sina und Finn Steinmeier auf halbwegs bequemen Plastikschalenstühlen. Zwischen ihnen stand ein runder Tisch mit khakifarbener Decke, Aschenbecher und einem merkwürdig geformten schwarz-gusseisernen Kerzenhalter im Tribal-Stil. Durch den etwa zwei Meter breiten von Kunststoffpalmen umrankten Eingang zum Separee war die Silhouette von Fiedler zu erkennen, der an der runden Theke inmitten des im mäßig authentischen Urwaldstil gestalteten Raumes stand und wartete.

"Sie waren also dabei, als Astrid Kirchner starb?" Offenbar hatte Sina genug vom schweigenden Starren ihres Gegenübers. "Kannten Sie sie? Hat Sie der Verlust schwer getroffen?" Irgendwie gelang es ihr nicht, echte Betroffenheit oder Mitgefühl in ihre Stimme zu legen.

Finn Steinmeiers Gesichtszüge arbeiteten kurz, dann entgegnete er gefasst: "Ja, vielleicht und irgendwie ja. Ich war einer der vier Teilnehmer an dieser seltsamen Séance auf diesem vermaledeiten Theatergruppentreffen. Eigentlich kannte ich sie zuvor nur so als kurze Partybekanntschaft und hatte sie idiotischerweise an dem Wochenende mitgeschleppt - aber irgendwie hat sie mir schon etwas bedeutet..."

Verwirrt hielt Finn inne - auch weil sich Sinas Blick von ihm gelöst hatte und nun durch die Bar huschte, begleitet von einem abwesend verspielten Gesichtsausdruck. Sein abruptes Schweigen realisierend, fokussierte sich ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf ihn. "Aber Sie waren damals noch kein Grenzgänger, nicht wahr?"

"Nein. Das war ja das Krasse! Sie war es eigentlich, die auf mich zugekommen ist - sonst hätte ich sie wegen des Schleiers wahrscheinlich gar nicht erst wahrgenommen. Zuerst dachte ich mir, sie wäre nur ein weiteres Groupie - wissen Sie, wenn man erst einmal ein paar Stunden auf dem Fernsehschirm war, dann laufen einem die Mädchen geradezu hinterher." Sinas erneut aufgenommene Suche durch den Saal hielt für einen Augenblick inne und sie sah Steinmeier ungläubig grinsend an, der jedoch ungestört fortfuhr. "Allerdings merkte ich ziemlich bald, dass Astrid anders war, dass sie die Dinge anders sah, einen ganz anderen Horizont hatte... und dann war ich dabei, als sie starb - und dann hatte ich sie komplett vergessen! Einfach so! Sie hing neben mir tot auf dem Stuhl und ich hatte sie vom einen auf den nächsten Moment vergessen! Das ist doch ..."

"Ha!" Weit abseits jedes Kontexts strahlte Sina plötzlich zufrieden und zeigte mit der Hand quer durch den Raum auf ein von einer Servicekraft getragenes Tablett - oder besser gesagt auf einen kompliziert aussehenden Cocktail darauf, dessen Farbe in seinem geschwungenen Kristallpokal von Tiefrot zu einem satten Gelb changierte, gekrönt von kompliziert ineinandergesteckten Ananas- und Orangenscheiben und einer kleinen glitzernden Plastikpalme. "Das da!" Ohne Vorwarnung materialisierte ein exakt gleiches Getränk in einem exakt gleichen Glas zwischen ihr und dem völlig perplexen Finn auf dem Tisch - natürlich mit einer exakt gleichen Glitzer-Deko-Palme.

Als Fiedler ein paar Augenblicke später zu den beiden stieß, glotzte Finn Steinmeier immer noch leicht konsterniert auf die geistesabwesend aber glücklich mit der kleinen Plastikpalme spielende Sina. Mit einem nur minimal skeptischen Seitenblick auf Sinas rot-golden schillerndes Getränk stellte er das voll beladene Tablett auf den Tisch. "Ich sehe, Sie haben sich selbst schon etwas zu trinken organisiert. Fein. Dann bleibt eben mehr für die Geborenen."

"Geborene?" Finn erwachte gleichsam aus seiner Verwirrung. "Was soll das schon wieder heißen?"

"Ganz einfach, wir beide sind Menschen und als solche irgendwann einmal gezeugt und geboren worden. Sina hingegen ... na ja, ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie sie wann einmal entstanden ist - so etwas fragt man eine Dame natürlich auch nicht." Er warf einen huschenden Blick zu ihr hinüber und stellte fest, dass sie seinen Erläuterungen freundlich interessiert folgte.

"Wesen wie sie bezeichnet man als 'Beschworene'. Allerdings sollte man sie nicht unbedingt alle über einen Kamm scheren: unter dem Begriff werden Naturgeister, Menschengeister, Elementare, Manifeste, Belebte, Golems, Konstrukte, Untote und so weiter zusammengefasst. Eine extrem durchmischter Haufen. Sie verstehen? Sina ist ein Geist in Menschengestalt - wenn auch in einer durchaus ansprechenden." Während Fiedlers Beschreibung waren Steinmeiers Augen erst rund vor Erstaunen geworden, dann leuchtete Begreifen darin auf.

Sina räusperte sich vorwurfsvoll, worauf Fiedler kurz stutzte, grinste und dann hinzufügte: "Bevor ich mir jetzt aber Unhöflichkeit vorwerfen lassen muss: Die werte Sina gehört meiner Einschätzung nach zu den Menschengeistern - und kann, wie Sie schon bezeugen konnten, allenfalls im gereizten Zustand als 'böser Geist' bezeichnet werden." Erwartungsgemäß kehrte das Lächeln in Sinas Gesicht zurück und sie widmete sich wieder ihrer Glitzerpalme.

Mit zwei flinken Schritten eilte Fiedler um den Tisch und nahm zwischen Sina und Steinmeier Platz, so dass er nun genau wie Sina das Lokal vor dem Separee im Blick hatte. Währenddessen hatte Finn den Teller mit dem riesigen dampfenden, aromaverbreitenden Hamburger und einem Haufen Pommes Frites zu sich heran gezogen und musterte den Nahrungsberg mit erwartungsfrohem Ausdruck. "Danke, Fiedler! Erzählen Sie mal was von dem Geschäft." Rasch sah er noch einmal unsicheren zu Sina hinüber, dann fiel er hungrig über seinen Teller her.

"Also, lassen Sie mich die Sache kurz fassen, während Sie essen. Mein Auftraggeber - vertreten durch diese Dame hier"- (eine kurze Geste zu Sina) "möchte gerne Astrid Kirchner wieder unter den Lebenden haben. Das ist vermutlich nicht so schwer, wie es aufs Erste klingen mag, weil sie wahrscheinlich nicht wirklich vollständig tot ist. Zunächst müssen wir aber herausfinden, wo wir sie finden könnten - und dafür brauchen wir Sie." Fiedler blickte den über beide Backen kauenden Finn Steinmeier auffordernd an, dessen Mund deutlich zu voll für jede Antwort war.

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