7. Fragestunde (4)


Genau so hat sich die Sache dann aber auch angelassen: Astrid fragte uns nach Erinnerungen, die wir an Frau Schierlo hatten und jeder von uns ließ irgendeine rührselige Geschichte vom Stapel. Manchmal hatte ich zwar das Gefühl, als würden irgendwelche wispernden Stimmen oder hallenden Geräusche durch den Raum klingen, aber das hatte ich sofort wieder verdrängt. Zur Hölle, sogar da hat dieser Drecks-Schleier noch jede Warnung einfach ausgeblendet!

Dann wurde die Sache plötzlich zu einem total schizophrenen Horrortrip: Astrid sank tot in sich zusammen und blutete da auf ihrem Stuhl - aber gleichzeitig weigerte sich alles in mir, diesen Anblick als real zu erkennen. Damit nicht genug überkam mich das Gefühl, als wäre ich gerade kurz eingenickt gewesen - und obwohl mir die Szene unmittelbar und brutal vor Augen stand, konnte ich sie weder wahrnehmen, noch mich an sie erinnern."

Finns Stimme war nicht laut, aber emotionsgeladen bis zum Überschlagen. "Ich konnte mich nicht einmal mehr an Astrid erinnern! Obwohl sie tot neben mir auf ihrem Stuhl hing! Das ist doch wie im krassesten Wahnsinn!

Statt dessen reimte sich mein dämliches Normalogehirn die verlogene Geschichte zusammen, dass man gerade einfach gemütlich zusammengesessen und über alte Zeiten geratscht hätte. Der Schleier lässt eben keinen Platz für sterbende Menschen. Sogar zwei meiner Freunde am Tisch hatte ich verdrängt - sie waren bei der Aktion wohl zur Grenze gerutscht. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Zwei Leute, die ich Jahrzehnte lang gekannt habe - einfach von einem Moment auf den anderen vergessen und gestrichen. Und Astrid. Tot. Tot und vergessen. Begraben im Grenzland, zugedeckt vom Schleier." Für einen Moment hing Finn mit einem Echo von Entsetzen und Schmerz in den Augen seinen Gedanken nach.

"Ich verstehe Ihre Betroffenheit, Herr Steinmeier." Fiedler notierte, dass in Sinas Stimme diesmal echtes Mitgefühl mitzuschwingen schien, dann überwog jedoch ein Unterton der Neugier. "Trotz aller Erläuterungen sind bislang aber zwei doch ziemlich wichtige Fragen offen geblieben - zusätzlich zu einer nicht unbedingt ganz so wichtigen.

Erstens: Warum ist Frau Kirchner denn überhaupt gestorben - ich weiß, Geborene tun das gelegentlich, aber erfahrungsgemäß haben sie immer einen Grund dafür. Zweitens: Was ist mit dem Ding in den Karten? Sie haben doch sicherlich eine Lösung für das Problem gefunden, Herr Fiedler, sonst hätten Sie nicht so weitschweifend von der Sache erzählt. Und drittens: Wenn Sie sich darüber beklagen, dass der Schleier Ihnen die erste Erfahrung mit dem Sterben an der Grenze geraubt hat - bei welcher Gelegenheit sind Sie denn dann eigentlich ins Grenzland gekommen, Herr Steinmeier?" Mit fragender Miene lehnte sie sich zurück und ignorierte Finns entrüstete Blicke.

Beflissen eilte sich Fiedler zu antworten - auch um den gerade mit sich ringenden Finn Steinmeier etwas Zeit zu geben. "Nun, meine Dame, so einfach sind die Antworten nicht zu trennen. Ich will mal einen ganzheitlichen Ansatz versuchen - auch wenn dabei das ein oder andere Detail unter den Tisch fällt.

Bei dem 'Ding in den Karten', wie Sie es so schön formuliert haben, handelte es sich um eine ziemlich mächtige Wesenheit, die an einen bestimmten Ort hauste - ein recht malerisches Hünengrab übrigens. Wie so viele kultisch/magische Orte muss das Grab wohl im Laufe der Zeit vergessen und aus dieser Welt über die Grenze hinaus in die Ödnis gerutscht sein, wodurch das Wesen zu einem Anderweltler wurde. Wenn ich mich recht erinnere, teilt es dieses Schicksal mit ziemlich vielen verblassten Götzen und Göttern ...

Jedenfalls schien das Wesen, das sich selbst übrigens als 'das Orakel' bezeichnete, offenbar  über ziemlich beachtliche seherische Fähigkeiten zu verfügen. Alternativ konnte es die Realität so verbiegen, dass seine Vorhersagen auch zutrafen, so genau kann man das ja nie sagen. Irgendwann muss es wohl einem nicht näher benannten Grenzgänger gelungen sein, das Orakel an ein Tarot-Deck zu binden, sodass dessen Fähigkeiten mit den Karten verknüpft waren. Natürlich war die betreffende Ex-Gottheit nicht besonders glücklich über dieses Arrangement und versuchte ihrerseits aus dem Deal auszusteigen.

Im Prinzip passte mir dieses Vorhaben ja ganz gut in den Kram, denn ich sollte ja auch tunlichst dafür sorgen, dass das 'Ding in den Karten' aus unserer Welt verschwindet. Kurz gefasst: Irgendwann hatten wir die Leute auf dem unseligen Theatergruppentreffen soweit, dass alle ihre Karten auf den Tisch gelegt hatten" - Fiedler grinste fröhlich ob des Kalauers - " und der einzige Weg sie endgültig loszuwerden war, die Karten dem Orakel zurückzugeben und zu vernichten. Zufälligerweise ... nun, so viel Zufall es eben geben kann, wenn man mit schicksalskräftigen Wesen spielt ... zufälligerweise hatten wir sogar die Möglichkeit, durch ein Tor in der Nähe in die Ödnis und sogar in die Nähe des Orakels zu gelangen.

Soweit war der Plan ganz gut. Womit wir aber nicht gerechnet hatten war, dass sich uns plötzlich ein Großteil der Normalos auf dem Treffen anschloss, um mitzukommen - in die Ödnis. Im Prinzip nicht mein Problem - vom Paradox mal abgesehen - aber den wenigsten war es klar, dass sie mit der Aktion auch nach ihrer Rückkehr in diese Welt kein vollwertiger Teil der Normalität mehr sein würden. Ein Schritt in eine Anderwelt wie die Ödnis ist ein endgültiger Schritt durch den Schleier." Mit Blick auf den ihn grimmig anstarrenden Finn setzte er hinzu: "Nein, Herr Steinmeier, Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich Sie nicht mehrfach gewarnt hätte.

Das Orakel zeigte sich allerdings zu einem Handel bereit: Jeder, der ihm eine Karte zurückgab, konnte auf eigenen Wunsch nicht nur in die Realität zurückkehren, sondern verlor darüber hinaus all sein Paradox und seine Erinnerung an Grenzdinge. ... Ja, meine Werteste, die Macht hinter dieser Fähigkeit hat auch mich überrascht. Auf alle Fälle gingen die meisten der 'Mitgekommenen' auf diesen Vorschlag ein - wobei Herr Steinmeier hier eine der Ausnahmen war.

So. Nun will ich Ihnen aber auch noch ihre Kernfrage beantworten - oder vielmehr nicht beantworten: Warum Frau Kirchner starb wissen wir nicht genau. Was wir wissen ist, dass die Lehrerin damals bei dem Bunkerunglück nicht starb, sondern stattdessen irgendwie mit dem Orakel ins Geschäft kam. Demnach gehen wir davon aus, dass als Astrid Kirchner ihre medialen Fühler nach ihr ausstreckte, sie auf irgendeine Art und Weise das Orakel selbst berührte - das dann einfach kurzen Prozess mit ihr machte." Zufrieden mit seinen Ausführungen schnappte sich seinen Drink, fläzte sich entspannt in seinen Sessel und ließ seinen Blick zwischen Sina, Steinmeier und der Bühne hin und her wandern.

Sina zog die linke Augenbraue hoch und zeigte Fiedler ein feines Raubtierlächeln. "Nun ... da gilt es offenbar noch eine Menge Informationen einzuholen. Ein Punkt interessiert mich aber doch gleich noch: Ist es zu gewagt zu fragen, warum Sie an der Grenze bleiben wollten, Herr Steinmeier?"

Finn sah sie aus tiefen düsteren Augen an und schwieg eine dramatische Pause lang. "Nie wieder vergessen!"

Keine Kommentare: