9. Querungen (2)


"Anderwelt? Das war die komische Sache mit den Toren aus dieser Welt ... hinaus in irgendwelche anderen Ebenen?" Offensichtlich versuchte Finn gerade angestrengt, sein Weltbild der darauf einprasselnden nicht-passenden Konzepte anzupassen. "Ist die Ödnis nicht generell sowas wie ein Totenreich?"

"Nicht wirklich. Aber eins nach dem anderen: Wie Boris offensichtlich versäumt hat Ihnen beizubringen, gibt es neben dieser unserer Realität noch andere Welten, in die man durch verschiedene mehr oder weniger leicht zugängliche Tore gelangen kann. Die Ödnis ist im Grunde genommen eine sogenannte Zwischenwelt - sie besteht mehr oder weniger aus Orten, die keinen Platz mehr in der normalen Welt haben und vergessen wurden. In der Ödnis finden Sie die von Monstern und Drachen bewohnten Höhlen und Seen, die in dieser Welt zum Mythos wurden, die vergessenen Täler mit den mordenden Affenmenschen, die alten, von Geistern und Flüchen bewachten Gräber - und die Schreine der alten Gottheiten, wo sie ihre Wunder wirkten und Opfer nahmen. Die Natur dieser Anderwelt spielt eigentlich sogar in unsere Tasche - weil alle Orte unterschiedlich sind, gibt es zwischen ihnen so eine Art Barriere, die verhindert, dass ein Wesen einfach von einem Ort zum anderen wechselt. Die Seele der Kirchner ist also wahrscheinlich immer noch beim Ort des Orakels. Tatsächlich waren Sie natürlich auch schon einmal dort: Erinnern Sie sich an die Rückggabe der Tarotkarten?"

"Ja. Deutlich. Dunkler Ort mit großen Steinen, leuchtenden Zeichen und wispernden Stimmen. Passt ziemlich gut auf Ihre Beschreibung - so was hat in der realen Welt irgendwie keinen Platz - so wie die Besessene in der Kneipe, Sie beide ... und ich." Finn dachte einen Moment nach und blickte Fiedler dann argwöhnisch an. "Aber wieso ist es ein Problem einfach wieder dorthin zu gehen? Wir waren doch schon einmal dort? Können Sie nicht einen einfachen Weg nehmen? Und überhaupt - warum haben Sie das Angebot von diesem Samedi nicht angenommen, Astrid einfach wiederzubeleben? Wollen Sie das denn nicht?"

"Eine teilweise berechtigte Frage, Herr Fiedler!" Sina trottete mit fließenden Bewegungen und skeptisch interessiertem Gesichtsausdruck hinter den beiden her. "Sie hätten ihm sicher mehr bieten können, als unser grüner Neuling hier."

Es zuckte in Finns Gesicht, als er sichtlich mit sich ringen musste, nicht auf Sinas Sticheleien einzugehen. Im Gegensatz dazu blieb Fiedler völlig gelassen. "Wieder zwei Fragen, Herr Steinmeier, die ich nacheinander beantworten kann - übrigens ohne jegliche Bedenken.

Selbstverständlich wäre es naheliegend, das Orakel einfach durch das selbe Tor wiederzufinden, das wir damals benutzt haben - im Prinzip. Dagegen spricht, dass wir einerseits das Tor nicht ohne weiteres öffnen können - da hatten wir letzten Herbst mehr als nur Glück. Außerdem hat Boris nach den Geschehnissen um das Orakel ein paar Nachforschungen über das Tor angestellt und dabei herausgefunden, dass dieses Portal zur Ödnis im Grund ganz gut bekannt ist - mit der Einschränkung, dass es definitiv nicht zum Orakel führt. Es ist also anzunehmen, dass das Orakel, von Samedi so liebevoll als toter Gott bezeichnet, irgendeine seiner Fähigkeiten genutzt hat, um den Ausgang des Portals umzuleiten. Fazit: Der Weg, den wir letztes Mal genommen haben, ist diesmal verschlossen. Seien Sie aber beruhigt, dieser Weg wäre auch meine erste Wahl gewesen, schließlich möchte ich diese Geschichte auch möglichst einfach und schnell hinter mich bringen.

Was Ihre andere Frage angeht: Ich habe bereits ein paar Geschäfte mit Samedi hinter mir und auch schon ein paar seiner anderen Geschäftspartner getroffen - auch solche, die sich auf solch verlockende Deals mit ihm eingelassen haben, wie er ihn auch uns angeboten hat. Wobei ... ich weiß nicht, ob man bei diesen Leuten noch von Partnern oder besser von Opfern sprechen sollte. Wie unsere offenbar erfahrene Begleiterin hier Ihnen sicherlich bestätigen kann," ein scharfer Blick zur betont unschuldig dreinschauenden Sina, "ist der gute Baron in erster Linie im Toten-, Untoten-, Maden- und Fäulnisgeschäft tätig. Eine Wiederkehr unter seiner Regie wäre wahrscheinlich eher eine Auferstehung des Leibes - und zwar im jetzigen Zustand mit allen dazugehörigen Verfallserscheinungen und Samedis heißgeliebten Fliegenschwärmen. Ob diese Wiedergängerin dann tatsächlich von Kirchners Geist beseelt wäre, das halte ich doch für mehr als zweifelhaft. Wahrscheinlich kann Samedi auch eine wahrhaftige Auferstehung inszenieren - mit ein paar Einschränkungen, die hier aber nicht zutreffen dürften - aber dafür müssten wir ziemlich hoch in seiner Gunst stehen, was weder für Sie noch für mich und am allerwenigsten für die geschätzte Sina der Fall zu sein scheint. Davon abgesehen denke ich nicht, dass der Preis, den Samedi auch nur für eine Zombifizierung der guten Frau Kirchner verlangen würde, von den Spesen abgedeckt ist..." Fiedlers Blick kam schneidend kalt auf Sina zu liegen.

Ein paar dutzend Sekunden lang herrschte  völliges Schweigen, untermalt vom unablässigen Prasseln des Regens auf das nächtliche Straßenpflaster, während Fiedler der Gruppe auf den Bogen der Neuen Schlosserbrücke zu führte. Um Ärger mit dem Troll machte er sich dabei keinerlei Gedanken. Erst als sie die Brücke betreten hatten, entsann sich Finn seiner ursprünglichen Frage.

"Und was hat das jetzt mit der Zigarettenpackung zu tun?"

Keine Kommentare: