8. Untertöne (2)


Als er etwa zehn Minuten später wieder mit höchst zufriedenem Gesichtsausdruck an den Tisch zurückkehrte, hatten Sina und Finn noch kein Wort miteinander gewechselt. Statt dessen schienen beide völlig in die wirbelnden Klangmuster der auf der Bühne tobenden Schlagzeugerin vertieft zu sein - Steinmeier starrte mit leicht glasigen Augen zur Quelle der Trommelquelle, während Sina vergnügt lächelnd sich in ihrem Sitz mit den Rhythmen mitwippte.

"Na, Herr Fiedler, hat der Automat Ihnen jetzt gegeben, was sie wollten?"

Fiedler grinste, zog eine Zigarettenpackung aus seiner Tasche und sah sie fast schon triumphierend an.

 "Sieht so aus!"

Mit einem flugs aus der Tasche gezogenen kleinen Klappmesser entfernte er die Plastikverpackung und machte sich daran die Steuerbanderole von der Papphülle zu pulen. Einen Moment lang sah ihm Sina zu, dann begann sie mit einem kurzen Seitenblick auf den immer noch apathisch wirkenden Finn: "Nachdem wir beide gerade ja unter uns zu sein scheinen - was genau haben Sie mit Steinmeier vor? Er soll als Ankerpunkt für eine Verknüpfung dienen, so viel ist mir klar. Warum schleppen Sie ihn aber hier her und lassen ihn von der Magie dieser Trommlerin in Trance versetzen? Waren Sie sein selbstmitleidiges Geschwätz leid? Wie ist der Plan?" und mit einem ironischen Unterton fügte sie hinzu: "Wissen Sie, ich wäre durchaus dazu bereit, Sie bei Ihrem Vorhaben zu unterstützen..."

Ohne von seiner Messerarbeit aufzusehen, zog Fiedler eine Grimasse. "Ja, Ihre Weisheit ist unbestreitbar. Steinmeier ist gerade vollkommen weggetreten - wie übrigens jeder ungeschützte Grenzgänger hier drin - und er soll uns später als Ankerpunkt dienen. Allerdings fürchte ich, dass wir ihn mitnehmen müssen, damit wir dem 'Faden' zwischen ihm und Frau Kirchner entsprechend folgen können. Es wäre also ganz gut, wenn er in einem Stück verbleiben würde. Die Sache mit der Trance tut aber eigentlich nichts zur Sache.  Wenn ich den Berichten von ein paar Freunden trauen kann, die die Show ebenfalls ohne Schutz miterlebt haben, ist das Erlebnis definitiv nicht unangenehm - und Sie haben Recht: Jammern kann er dabei auch nicht. Derzeit warte ich darauf, dass Madame mit dem Trommeln aufhört und an ihren Tisch zurückkehrt. Ich würde Sie dann bitten, Steinmeier noch einen Moment bei der Stange zu halten, während ich hinübergehe und mir die unwichtige Information einhole, wo denn die Kirchner eigentlich abgeblieben ist."

"Sagten Sie nicht bereits selbst, Meister Unbehaun hätte sicherlich schon alle Medien und 'andere Leichenschänder' befragt? Wieso meinen Sie, diese 'Madame' könnte das besser?"

"Nun wissen Sie, Madame Lestrange weiß vieles - aber ich stimme Ihnen zu, dass sie wahrscheinlich von Astrid Kirchners Tod und Aufenhalt keine Ahnung hat, aber ... nun ja ... wie will ich das erklären ..."

Genauso jäh, wie es begonnen hatte, erstarb das Dröhnen der Trommeln auf der Bühne, wo die Künstlerin nun schnell atmend und schweißgebadet doch reglos hinter ihren Schlaginstrumenten verharrte, die Hände zur Decke gereckt. Unwillkührlich sah Sina hinüber - und ungläubiges Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, während ein fremdartig und stark nach leisem Fluchen klingendes Wort ihren Lippen entfuhr.

Fiedler wirkte ebenfalls sichtlich überrascht. "Oh, Sie kennen sich?"

Als Sina keine Anstalten machte zu antworten, wanderte Fiedlers Blick wieder zurück zur Bühne. Über den gereckten Körper der Trommlerin, deren Haut dort wo er nicht in bunte etwas jenseits der aktuellen Mode angesiedelte Kleidungsstücke gehüllt war, vor Schweiß wie nasses Ebenholz glänzte lief ein Schauer. Beginnend auf der Höhe ihrer Brust setzte sich ein seltsam kontrolliert wirkendes Zucken fort - auf der einen Seite in Richtung von Bauch und Beinen und nach oben hin durch eine grotesk elegante Wellen- und Drehbewegung ihres Halses, weiter betont durch das Hin- und Herpeitschen ihrer langen schwarzen von dünnen geflochtenen Zöpfen durchzogenen Haarpracht.

Als ihr Leib wieder zur Ruhe gekommen war, hatte sich ihr gesamter Ausdruck verändert: An die Stelle der grazil eleganten Körpersprache war nun eine zwar fließende, aber seltsam übertriebene Gestik getreteten, die einem Straßenpantomimen zur Ehre gereicht hätte. Auch ihre Haltung war - wenngleich immer noch aufrecht - anders, stolzer und aggressiver geworden. Ein grimassenhaftes Grinsen zog sich über ihr Gesicht, sie ließ ihre Hände sinken, wandte den Blick nach unten und schien für einen Moment ihren Körper zu betrachten, bevor sie völlig unvermittelt mit einer schlacksigen und doch gelenken Bewegung von der Bühne sprang.

 Gerade als Fiedler aufstehen und ihr entgegengehen wollte, wandte sich die Gestalt vor der Bühne ihm zu, legte den Kopf schief und deutete eine Verbeugung an - nur um dann mit selbstsicheren breiten Schritten schnurstracks auf den Tisch zuzukommen, an dem er mit Sina und Finn saß. Langsam und irgendwie gequält blechern sickerte wieder der Klang der Reggearhythmen aus den Lautsprechern und auch Steinmeier schüttelte verwirrt und träge den Kopf, als wolle er einen Anflug von Müdigkeit vertreiben.

Kurz bevor die Gestalt der dunkelhäutigen Frau bei drei angekommen war, griff sie sich mit einer beiläufigen Geste einen noch unberührten Cocktail von einem der Tische, schnippte mit den Fingern die Dekoration (Schirmchen und Ananasscheibe) auf den Boden und nahm ohne innezuhalten einen kräftigen Zug aus dem Glas. Mit offensichtlichem Missfallen kniff Fiedler die Augen zusammen:

"Das ist nicht gut! Wir sollten die Sache erledigen, bevor er zu viel getrunken hat!"

 "Er?" Völlig perplex starrte Steinmeier ihn an, doch da war die Frau auch schon bei ihnen angekommen und nahm mit einer weitschweifenden Bewegung breitbeinig am Tisch Platz. Noch vor irgendjemand etwas sagen konnte, funkelte Sina ihr neues Gegenüber an und ihre Stimme vibrierte vor Anspannung und Intensität. "Ghede! Baron Samedi! Wie nett! Ich sehe, der Tod kommt auch in diesem Jahrhundert auf dem Rücken seiner Jünger!"

Das fratzenhafte Grinsen der dunkelhäutigen Frau wich einem betont bis übertrieben jovialen Gesichtsausdruck, dann antwortete sie mit überraschend männlich wirkender Stimme: "Wie reizend! Die Freude ist ganz meinerseits, Shi'anha! Wie läuft denn das Geschäft als böser Geist? Haben sich deine Ziegenhirten immer noch nicht ausrotten lassen?"

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