10. Andere Saiten (4)


Den soeben aus der Tasche geborgenen Puppenkopf in den vor sich gestreckten Händen haltend begann Irene Hasmann durch das Prasseln des Regens unhörbare Worte und Phrasen zu murmeln. Dann blickte sie Brack an, nickte deutlich ohne im Redefluss innezuhalten und schloss die Augen. Brack sog tief Luft ein, streckte noch einmal die Schultern durch und stapfte entschlossen los in Richtung Brücke. Als er Beil und Mohrek passierte, drehte er den Kopf zu ihnen um, grinste kalt und knarrte im Kommandoton: "Meine Herren, am besten  bleiben Sie hier, halten Maulaffen feil und fragen sich, warum Sie lieber ein Kind vorgeschickt hätten als sich selbst ein paar Schrammen einzufangen." Dann zog er mit völlig routinierter Geste sein Schwert aus der Scheide und setzte seinen Fuß auf den Brückenabsatz.

In vollem Bewusstsein der gebannten Blicke von Beil, Mohrek und Irene Hasmann schritt Brack den Brückenbogen entlang. Ein Anfänger hätte wohl nach ein paar Metern auf der Brücke Hoffnung geschöpft, doch sicher auf die andere Seite zu gelangen. Nun ja, Brack wusste es besser - aus Erfahrung: Trolle warteten gerne, bis sich ihr Opfer mitten auf der Brücke befand - das machte den Versuch, das rettende Ufer zu erreichen, aussichtsloser. Es war nicht die Frage ob, sondern viel mehr wann und wie der Angriff erfolgen würde. Alle Sinne weit offen konzentrierte sich Brack auf jedes Detail seiner Umgebung, versuchte das Unbekannte zu erwarten. Diese Form der Anspannung, der gerade Weg hin zu einer Konfrontation, das gewohnte Gewicht des Schwertes in seiner Hand und das vertraute Gefühl des Mantels auf seinen Schultern - genau so etwas hatte er heute noch gebraucht. Insgeheim hoffte er, dass der Troll dieser Brücke mindestens so fies sein würde, wie er gehört hatte ...

Überhaupt Trolle. Underdogs der Feenwelt. Brack konnte sich mehr oder weniger schmerzhaft an einige Zusammentreffen mit diesen groben Vertretern des "Volkes von Arcadia" erinnern. Im Grunde genommen gab es drei Möglichkeiten, an einem Troll vorbei zu kommen: Bezahlen, wenn der Troll einen "Trollzoll" verlangt, den Troll mit irgendeinem Trick verarschen oder aber eine frontale Auseinandersetzung. Weder die erste noch die zweite Möglichkeit zog er in Betracht. Überhaupt war ihm nicht bekannt, dass der Schlosserbrückentroll jemals Trollzoll verlangt hätte.

Es war eine kleine Veränderung in Rhythmus und Klang des Regens auf dem Plexiglasdach der Brücke, der Brack abrupt in Alarmzustand versetzte. Das Prasseln wurde leiser aber gleichzeitig dumpfer und klingender. Während sich sein Griff um das Schwert festigte, schlich ein sarkastisches Grinsen auf Bracks Lippen - übertrieben betonte Sinneseindrücke waren anscheinend ein Nebeneffekt des Feenglamours, den eben auch Trolle dafür verwendeten, ihre "Domäne" nach ihren Wünschen zu gestalten. Erkenne deinen Gegner an seinen Spuren, lies sie und lies ihn und nutze seine Schwächen! Das Lächeln auf Bracks Lippen verflog, als seine freie Hand in eine Manteltasche glitt und sich leicht um einen kleinen Beutel (nicht um die Phiole) schloss.

Dann wuchs der Troll aus dem Boden der Brücke, was Brack gelassen beobachtete - bis sich die Form des Wesens vor ihm deutlicher ausprägte.

Zunächst hatte sich in der Fläche der dunkelroten und grauen Betonsteine, die den Bogen der Neuen Schlosserbrücke bedeckten, eine etwa tellergroße Pustel aufgeworfen, fast so, als schafften sich die Wurzeln eines Baumes Platz unter einem naheliegenden Weg. Diese Wölbung war dann aber in erschreckendener Geschwindigkeit auf einer Fläche von drei Metern im Durchmesser angeschwollen und wuchs unablässig immer höher hinauf. Bald waren die ersten Pflastersteine zur Seite gefallen und gaben den Blick auf die Kreatur frei, die sich darunter ihren Weg aus dem Leib der Brücke hinaus bahnte.

Dumpfer, fauliger Gestank quoll heraus und Büschel von räudigem Fell traten ans fahle Licht der Brückenbeleuchtung, unter deren strähnigen Zotteln sich ölig schwarze, warzige Trollhaut spannte, an einigen Stellen jedoch krass kontrastiert von matten cremefarbenen, irgendwie künstlich wirkenden Flächen, die zwar offenbar zum selben Wesen gehören mussten - jedoch in keinster Weise zu dem passten, was Brack über Trolle wusste. Adrenalin schoss durch seine Adern, als sein Körper in Kampfhaltung ging, die Klinge zwischen sich und dem unerwartet unbekannten Gegner.

Weiter und weiter drang das Monster in ruckartigen Schüben aus dem Boden empor und immer mehr Brückenmaterial platzte von seiner bereits über drei Meter hohen Gestalt ab. Ein ungeschlachter knorriger Trollschädel mit triefenden schwarzen Schweinsaugen brach hervor, eine gewaltige, haarige, klauenbesetze Pranke wurde hochgerissen und schleuderte mit Leichtigkeit einen Zentner Steine über das Brückengeländer - und dann war da ein zweiter Kopf. Von Größe und Form her das Idealmaß eines menschlichen Kopfes, machten die deutlichen Spalten links und rechts des Unterkiefers sowie die klaffenden, randlosen Löcher dort, wo die Augen hätten sein sollen klar, dass es sich um eine Puppe handeln musste. Eine Puppe, deren grundlegende Gestalt dem Kopf glich, den Irene Hasmann am Ufer in den Händen hielt. Eine Puppe, auf deren neben der Trollfratze absurd perfekten Zügen ein Ausdruck wahnsinnigen Hasses in Plastik eingefroren war.

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