9. Querungen (4)


Die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, hielt Fiedler zielstrebig auf die unten am Brückenboden wartende Gruppe zu. Mit der leichten latenten Paranoia, die ihm das Überleben an der Grenze so oft erleichtet hatte, war auch ihm bereits aufgefallen gewesen, dass die beiden Männer sehr für das Geschehen auf der Brücke interessierten. Die dazugehörige Frau redete in der Zeit auf einen verwahrlost wirkenden Zehnjährigen ein - offenbar eine Art Straßenkind, mit dem sie dem Anschein nach in harten Verhandlungen stand. Währenddessen musterten ihre in lange Mäntel gehüllten Begleiter jeden Einzelnen, der die Brücke betrat oder verließ. Irgendwo in Fiedlers Hinterkopf regte sich das Gefühl, Fiedler hätte einen der Typen und vielleicht auch die Frau schon einmal gesehen. Grenzer? Egal. In jedem Fall war ein ungestörtes Vorankommen in seinem Sinn und Steinmeier sollte ruhig seinen Verschwinde-Trick vorführen und Sina Steinmeiers Gabe ausloten dürfen. Im Grunde genommen wurden mit diesem albernen Experiment zwei Dinge ausprobiert, deren Auswirkungen aber schwer auseinanderzuhalten sein würden: Kann Finn die Aufmerksamkeit auch von anderen Menschen ablenken und betrifft der Effekt die Abzulenkenden oder denjenigen, von dem abgelenkt wird. In letzterem Fall dürften die Beobachter am Brückenende ihn gleich mustern.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Sinas Aufmerksamkeit zwischen den beiden Typen und ihm selbst hin und her sprang - mit einem Grad von Anspannung, der einer Raubkatze kurz vor dem Sprung alle Ehre gemacht hätte. Impulsiv, die Dame. Oder? Irgendwo in Fiedlers Hinterkopf klingelte ein Alarm.

Er erreichte den stadtseitigen Fuß der Brücke.

Es geschah - nichts.

Die beiden Mantelträger würdigten ihn keines Blickes, keine Gefahr tauchte aus dem Hinterhalt auf - nicht mal der Troll ließ sich blicken. Nur der Regen prasselte auf das Plexiglasdach über der Brücke - und auf seinen Kopf und seine Schultern, als er darunter hervortrat.

Fiedler seufzte einmal mehr. Hinter ihm atmete Steinmeier vernehmbar auf, kaum dass ein paar Meter zwischen ihnen und seinen "Opfern" lagen. Sina war begeistert aber deutlich ruhiger als vorher auf der Brücke.

"Super! Das hat ja richtig gut funktioniert! Die haben Fiedler vollkommen ignoriert! Ist das anstrengend für Sie?"

 "Ach was - ein bisschen Fokus, ein bisschen Zen, sonst nichts." Finns kurzer Atem strafte ihn Lügen. "Es ist schwieriger, je mehr Leute abgelenkt werden sollen und je länger ich die Sache durchziehen muss. Irgendwie geht es auch noch darum, wie wachsam und clever mein Publikum ist oder so... Der Troll war jedenfalls ziemlich einfach."

Lakonisch schaltete sich Fiedler ein: "Trolle haben keine besonders lange Aufmerksamkeitsspanne - sie schauen nur, wer ihre Brücke betritt, nicht wer darauf bleibt."

Der verspielte Ausdruck auf Sinas Gesicht wich schlagartig wieder ihrem irgendwie gefährlich wirkenden Lächeln mit leicht zusammengekniffenen Augen:

"Trolle vielleicht - allerdings gehört Herr Steinmeier sicher nicht dazu."

An dieser Stelle ruckte Finn in völliger Überraschung herum und man sah ihm an, dass er nicht wusste, ob er nun geschmeichelt, beleidigt oder alarmiert sein sollte. Ungerührt fuhr Sina fort:

 "Ich bitte Sie, mir meinen Ausbruch von Neugier zu verzeihen, die Herren. Mir ist natürlich klar, dass Sie" - Sinas Augen bohrten sich freundlich aber nachdrücklich in die von Steinmeier - "sicherlich noch auf Fiedlers weitere Erläutungen warten, was unser nächstes Ziel angeht. Nicht wahr? Und Sie, Herr Fiedler, waren gerade so gründlich mit Ihren Ausführungen, dass es fast schon unhöflich von mir war, Sie dabei zu unterbrechen. Verzeihen Sie mir also bitte und fahren Sie fort!"

Mit ungewohnter Verlegenheit senkte Sina den Blick - ohne allerdings das Lächeln aus den Winkeln ihrer Augen zu verlieren.

Finn hatte sich wieder gefangen und besonnen und richtete seine Aufmerksamkeit mit krauser Stirn und angehobenen Augenbrauen auf den Sina grimmig anfunkelnden Fiedler.

"Ahm, genau. Also nochmal: Sie hatten gesagt, das Geschäft Ihres Kontaktes würde uns erwarten - und ich solle das auf mich zukommen lassen. Soweit so gut. Wo ich mich allerdings nicht einfach abwimmeln lassen möchte ist, welche Rolle ich bei der Sache spielen werde. Ich kann also nützlich sein. Nützlich als was? Als Helfer, Köder oder Gastgeschenk? Lassen Sie doch mal diese dämliche Geheimniskrämerei sein! Welche Rolle spiele ich in Ihrem Plan? Den Typ mit der Sprechrolle, der als erster in einer dunklen Gasse vom späteren Endmonster gefressen wird?"

Unvermittelt bog Fiedler den beiden anderen voran nach links über die Straße ab - hinein in eine vom regengedämpften Zwielicht der Laternen an der Hauptstraße nur indirekt erhellte Seitengasse.

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