10. Andere Saiten (3)


Er drehte sich zu dem Straßenbengel um, der ihn stockend kaugummikauend mit weit offenen Augen unter struppigen dunkelblonden Haaren ansah, die Hände in die Taschen der fleckigen braunen Jacke gestemmt und der offenbar nicht ganz begriff, worum es hier ging. "Noch Interesse an einem Geschäft?"

"Klar!" Eine Kaugummiblase und eine angehobene Augenbraue unterstrichen das Angebot. "Die Sache klingt aber mächtig schräg und ziemlich heiß. Was soll der Bullshit mit 'nem Troll? Dreht ihr hier 'n Film oder was?"

"Nicht dein Problem, Kleiner. Anderer Auftrag. Du rennst zu meiner Karre da hinten und holst hinter dem Beifahrersitz eine blaue Sporttasche raus. Nur die Tasche und keine Witzchen - verstehen wir uns? Dann bringst du die Tasche der Dame hier." Bracks Kinn wies auf Irene Hasmann. "Das Ganze bitte vorsichtig, als wäre in der Tasche ein Marmeladenglas mit einer ganzen Melone drin. Klar? Wenn du das erledigt hast, kriegst du von mir die Zahlenkombo für ein Schließfach am alten Westbahnhof, in dem du ein nettes und noch genießbares Fresspaket findest. Das gehst du dir dann holen - und zwar sofort."

"Sie sind so ein Grenzer, nicht?" Die Augen des Jungen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen. "Die Frau wollte mir auch kein Geld geben, ihr redet von komischen Sachen wie Trollen und Gehirn im Glas und hey, Sie haben so'n Riesenmesser auf Ihrem Rücken hängen ohne dass es irgend'nen Furz hier stört. Kein Geld, abgedrehte Sachen und irgendwie sieht euch keiner. Grenzer." Das letzte Wort spie er geradezu aus und machte vorsichtig einen Schritt rückwärts.

"Bist ja gut informiert." Brack wirkte unbeeindruckt, zog den linken Mundwinkel hoch und spuckte etwas Tabakreste in die Gosse. "Weißt du auch, was man noch über uns sagt? Über unsere Versprechen und unseren Handel?"

Nachdenklich nickte der Junge leicht und zögerte in seinem Rückzug. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach Brack weiter.

"Wenn der schlaue Mensch, der dir von uns erzählt hat, wirklich was von der Sache versteht, dann hat er dir erklärt, dass ein von uns gegebenes Wort zählt - und zwar auf den Buchstaben und  ohne Wenn und Aber. Ich hab' heute 'nen Scheißtag und verdammt noch mal keinen Bock auf Spielchen. Also hol uns die Tasche und hau ab - oder hau einfach nur ab."

Einen letzten Moment lang zögerte der Junge, nickte dann und rannte dann eilig in Richtung von Bracks Kübelwagen.

Nun wandte sich Brack zu der gleichzeitig empört und betreten wirkenden Irene Hasmann. "Ich nehme an, wenn ich Ihnen den Rest des Puppenkopfes hier lasse, können Sie etwas damit anfangen. Richtig?" Irene Hasmann nickte erst nachdenklich, dann mit Nachdruck und Brack hielt ihr auffordernd die behandschuhte Hand entgegen: "Na dann geben Sie mir mal ihr trollseitiges Fernende."

Die Magieradeptin musste kurz umdenken, dann holte sie aus ihrer braunen Lederhandtasche eine etwa fingerlange von silbrigen filigran geschwungenen Metallstangen umschlossene Phiole, in deren milchig trübem Inhalt träge ein graugrünliches Klümpchen trieb. Brack schätzte mit geübtem Blick die Zerbrechlichkeit des Objektes ab bevor er es nahm und in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Aus den Augenwinkeln sah er den Jungen, der sich mit hinreichend vorsichtig getragenen Tasche wieder der Hörweite näherte. Die Moralpredigt über das leichtfertige Opfern von Normalos, insbesondere Kindern, musste wohl noch etwas warten.

"Da haben Sie ihre komische Tasche - und wenn da Marmelade drin ist, seid ihr Grenzer noch abgefahrener als ich dachte." Wieder zögerte der Junge, sah auf die Tasche hinunter und stellte sich offensichtlich gerade zum ersten Mal die Frage, was da wohl tatsächlich drin wäre und warum er noch nicht hineingesehen hatte. Bracks Mundwinkel verschoben sich zu einem schiefen Grinsen: der Kleine war scheinbar noch normal genug, um durch den Schleier von den gröbsten Einblicken abgehalten zu werden. Grund und Zeit ihn loszuwerden. Aus einer der zahlreichen Innentaschen seines Mantels fummelte Brack einen mehrfach gefalteten Zettel und reichte ihn ohne weiter Überprüfung an den verwirrt wirkenden Jungen weiter.

"Hier. Die Nummer von Schließfach steht über der Kombination."

Etwas abwesend nahm der Junge das Papierstück entgegen, wendete es zwischen nassen ungewaschenen Fingern und steckte es dann ein, während er Irene Hasmann beobachtete, wie sie sich an der Tasche zu schaffen machte. Brack beschloss, ihm keine Zeit für Erkenntnisse oder Fragen zu haben und polterte im Kommandoton los: "Wartest du auf etwas Bestimmtes? Armageddon lässt angeblich noch etwas auf sich warten und bis dahin möchte ich hier fertig und aus dem Regen raus sein! Mach die Fliege! Aber flott!"

Noch einmal sah sich der Junge zur Brücke, zu Brack und zu der mit dem Reißverschluss der Tasche ringenden Irene Hasmann um, schickte sich an etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber doch anders und rannte durch den Regen in Richtung Uferpromenade davon. Brack sah ihm ein paar Sekunden nach, erneut abwägend, ob er die Hasmann zur Schnecke machen sollte. Dann wischte er sich die Regentropfen aus den Augenbrauen, beschloss, die junge Magierin jetzt nicht noch mehr zu verunsichern und stattdessen die Sache hier zu Ende zu bringen. Außerdem war er das Wetter leid und die Neue Schlosserbrücke war immerhin überdacht.

"Bereit, Frau Hasmann?"

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